Das Nordufer der Elbe flußaufwärts von Lauenburg habe ich nie so richtig wahrgenommen. Es gibt auf der ganzen Strecke zwischen Lauenburg und Wittenberge nur eine einzige Straßenbrücke, und zwar bei Dömitz. Vor dem 2. Weltkrieg gab es eine Schienenquerung am gleichen Ort, aber die wurde im zweiten Weltkrieg zerstört. Ich war tatsächlich noch nie am Nordufer der Elbe, und das, obwohl heute nur noch ein Fluss, aber kein Stacheldraht die Querung behindert.
Kollege Axel ist da anders drauf. Bis vor kurzem residierte er im Sommer auf einem Campingplatz bei Dahlenburg. Von da aus ist es nicht weit bis zur Elbfähre Darchau. Dann fuhr er mal eben schnell rüber, um auf der anderen Seite Sonden einzusammeln. Derzeit ist Winter, und das mit dem Campingplatz ist leider auch vorbei.
Das ganze Drama mit der anderen Elbseite begann am 19.12.2024. Da verlor sich die Spur einer Sonde aus DeBilt über der Strommitte. Derartiges Geflügel ist hier hochgradig selten, und sie kam völlig unerwartet. Sie war in 16km Höhe steckengeblieben, war dann ein Weilchen als Floater unterwegs um dann wie ein Stein abzustürzen. Nur aufgrund des ungewöhnlichen Flugprofils schaffte sie es in unsere Gegend. Und das beste: Ich habe das Ereignis erst 30 Stunden danach bemerkt, als ich die Warnmeldungen desTelegram-Bots auf dem Handy zu weit nach oben gescrollt hatte.
Der niederländische Startort Cabauw war mir unbekannt. Es ist aber evident, dass diese Sonde aus DeBilt kam. Auch auf unserer Whatsappgruppe stand bisher nichts zu dieser Sonde. Das änderte ich rasch.
Diesen Landeanflug verpennt zu haben, war etwas ärgerlich. Wie berichtet, experimentiere ich gerade mit dem Web-SDR auf dem Turm bei Zernien. Diese Landung hätte man damit wahrscheinlich bis zur Grasnarbe mitschneiden können, in jedem Fall hätte man damit erproben können, was von dem 290m hohen Turm aus 21km Entfernung möglich ist. So aber blieb nur eine unsichere Prediction. Und ob das den Aufwand einer Fahrt mit Bus, Bahn und Fähre rechtfertigt, weiß ich nicht. Am Freitag habe ich auch keine Zeit.
Samstags Mittags lerne ich dann, was möglich gewesen wäre: Denn die Norderney-Sonde tut es dem Teil aus DeBilt gleich. Sie quert die Elbe und bleibt knapp auf der anderen Stromseite liegen. Der Empfang mittels Tower Power ist extrem spektakulär. Das Ding empfängt das Signal der gelandeten Sonde und einzelne Frames lassen sich mit dem Zilog-Decoder verarbeiten! GPS-Höhe im Schnitt etwa 60m, das sind 5m über dem Boden. Zum Vergleich: wettersonde.net hat die Sonde bis 811m, Sondehub bis 932m, Radiosondy bis 504m.
Später am Abend gibt es noch besseren Empfang und ich decodiere durchgehend die Daten, Frame für Frame. Die Landestelle befindet sich auf dem Friedhof des Dorfes Kaarßen. Um 21:02:55 verstummt die Sonde. Ich entwickel die Idee, beim ersten Morgenlicht das Ding diskret zu bergen, noch bevor Friedhofsbesucher oder Gärtner dort für Ordnung sorgen können.
Sondentyp: RS41-SGP
SN: W1140453
Produktionsdatum:2024-03-14
Frequenz: 404.1 MHz
Timerkill: keiner
Startstation: Norderney (WMOID:10113)
Flugdatum: 21.12.2024 12:00Z
Track radiosondy/TowerPower-Mix
Maximale Höhe: 30209m
Durchschnittliche Aufstiegsgeschwindigkeit: 5.02 m/s
Landegeschwindigkeit: 5.1m/s
Fundstelle: Kaarßen LAT, LON: 53.19513,11.04826 Google Maps
Status: Geborgen am 22.12.2024,10:24 UT.
Methode: Signal nach der Landung decodiert via db0dan, Kaltsondenbergung
Wie hinkommen? Die naheliegende Verbindung führt mit Bahn und Bus via Lüneburg bis zum südlichen Elbufer bei Neu-Darchau. Dann mit der Fähre übersetzen und 15km radeln. Das Doofe: Es ist Sonntag. Da fährt die erste Bus/Fähren-Kombi so spät, dass man erst Mittags vor Ort ist. Kann man von Norden einschweben? Nein, denn in der Gegend haben die BWLer flächendeckend zugeschlagen. Deren Idee zur Verkehrswende ist die Totalabwicklung des ländlichen ÖPNV: Fahrplan ausdünnen und den Kostenfaktor Bus durch Anfruf-Sammeltaxis (Rufbusse) ersetzen. Man muss 1-2 Stunden vorher online oder telefonisch anfragen. Fragt keiner nach, fällt die Verbindung aus. Ach so: Ich will am Wochenende ein Rad mitnehmen? Kein Problem: Das geht aber nur telefonisch. Spätestens am Freitag um 18:30 muss man verbindlich einen Termin abmachen. Irgendwelche Fragen, warum der Landmann nicht ohne Auto auskommt?..Die einzig praktikable Verbindung nach Kaarßen am Sonntag Vormittag: Bahn nach Pritzier und 23km radeln. Ohne Brompton keine Fahrt zum Nordufer der Elbe. Aufgrund eigener Probleme komme ich mit dem ersten Zug am Morgen nicht los, so dass ich erst am späten Vormittag ins Zielgebiet radeln kann.
Das aber geht erstaunlich gut. Inzwischen sind auch an Nebenstraßen im Osten tolle Radwege installiert. Höhenmeter gibt es in der Elbeniederung auch nicht. So komme ich gut vorwärts. Auf den Wiesen stehen jede Menge Singsschwäne. Plötzlich ein Schild am Wegesrand:
Einreise in das Gebiet, das sich "Amt Neuhaus" nennt. Tatsächlich gehörte diese Gegend historisch zu Hannover bzw. Niedersachsen. Nach dem 2. Weltkrieg haben die Briten es den Russen überlassen, so dass die Elbe die Grenze zwischen den den Besatzungszonen bildete. Bis 1990 war das "Amt Neuhaus" ein Teil der DDR, kam aber nach der Vereinigung nach einem Referendum zurück nach Niedersachsen. Der Radfahrer bemerkt eine markante Verschlechterung des Straßenbelags.
Ich nähere mich dem Dorf. Da ist linkerhand auch schon der Friedhof. Friedhofsbesucher sind keine zu sehen. Die Sonde hängt unübersehbar an einem kleinen Baum in ca. 3-4m Höhe. Erstaunlich, dass die Sonde aus 18km Entfernung decodiert werden konnte. 290m Meereshöhe sind eben durch nichts zu ersetzen.
Der Fallschirm befindet sich hinter der Friedhofsmauer. Ich bin glücklich, dass ich hier keine spektakuläre Bergungsakrobatik zur Aufführung bringen muss. Die Bergung läuft schnell und diskret ab - am Rande einer ganz normalen Besichtigung des Friedhofs wird kurz etwas Müll entfernt.
Außer den Gräbern der Anwohner finden sich auch solche, die zum Nachdenken zwingen. Offenbar kam es 1945 hier bis zum Schluss zu sinnlosen Kämpfen. Diese Soldaten sind hier bestattet. Nicht nur Militärs waren hier zwischen den Fronten und der Elbe eingezwängt. Es strandeten - und starben - hier wohl recht viele zivile Flüchtlinge. Nach der Kapitulation wurden für diese Personen Lager eingerichtet, in denen die Versorgungslage mangelhaft war. An den Todesdaten erkennt man, dass viele dieser unglücklichen Menschen noch Jahre nach dem Krieg den Strapazen der Flucht erlegen sind - so stellt es jedenfalls die Kriegsgräberfürsorge auf ihrer Webseite und einem pdf dar. An einer Stelle steht das Einzelgrab eines pensionierten Schuldirektors aus dem Osten, dessen Leben hier endete.
Nachdem ich den bedrückenden Ort verlassen habe, muss die weitere Route geplant werden. Es geht Richtung Elbe. Wieder wird deutlich, dass Verkehrsbehörden bei dem Aufstellen des Schildes "Durchfahrt verboten für alle Fahrzeuge" gar nicht an Radfahrer denken. Wer kein Landwirt oder Angler ist, kann den überall beworbenen und ausgeschilderten Elberadweg nicht legal befahren?
Wenn man diese sinnlose Beschilderung so interpretiert, wie sie in Wahrheit gemeint ist, kann man durch eine wunderbare Landschaft fahren - absolutes Genussradeln. Der kalte Gegenwind wird durch den nahen Deich gedämpft. Teilweise scheint sogar die Sonne.
Schon ist das Elbdorf Darchau erreicht. Die Elbfähre pendelt munter zwischen den Ufern. Ich aber bleibe auf der Nordseite. Bis zur ungefähren Landestelle der DeBilt-Sonde sind es nur noch 3km. Mangels Tower Power wird die Suche im Gelände wohl schwierig, aber nicht chancenlos. Die Zeit reicht auch für eine längere Suche - es ist noch früher Nachmittag. Und DeBilt-Sonden sind in unserer Gegend Raritäten. Ich radel gespannt weiter, an einem DDR-Grenzturm vorbei, der zu einem Fledermausquartier umfunktioniert worden ist. Ein wenig elbabwärts muss die Sonde niedergegangen sein.
Sondentyp: RS41-SGP
SN: W2351044
Produktionsdatum:2024-06-07
Frequenz: 403.9 MHz
Timerkill: keiner
Startstation: DeBilt (WMOID: 06260))
Flugdatum: 19.12.2024 00:00Z
Track wettersonde/sondehub
Maximale Höhe: 16949m
Durchschnittliche Aufstiegsgeschwindigkeit: 1.49 m/s
Landegeschwindigkeit: 11.2m/s
Fundstelle: Darchau LAT, LON: 53.25530,10.8633 Google Maps
Status: Geborgen am 22.12.2024,12:59 UT.
Methode: Tawhiri-Prediction nach Sondehub-Daten
Und was soll ich sagen: Ich bin noch nicht vom Fahrrad abgestiegen, als ich weiß, dass ich hier richtig bin. Ein großer roter Fallschirm und ein riesiger Ballonrest auf einer Weide springen geradezu auf den ersten Blick ins Auge. Bei genauerer Inspektion liegt da auch die Sonde, nur 25m vom Zaun der Weide entfernt. Tiere sind keine auf der Weide - nur ihre Hinterlassenschaften. Der Fallschirm ist das gleiche Modell wie die alten großen Bundeswehrschirme aus der RS92-Zeit. Der Ballonrest hat sich in den Fallschirmleinen verknotet, was die hohe Landegeschwindigkeit erklärt. Dass es derart einfach werden würde, hätte ich nicht gedacht.
Dann gibt es da noch einen Rätselfund aus der Abteilung "HÄ?". Beim Einrollen der Schnur stolpere ich über diesen Gegenstand - er liegt auf der Weide.
Wohlgemerkt: Wasser mit großen Raubfischen ist weit weg. Was auch auffällt: Die Angelhaken sind abgeknipst.
Nach der schnellen Bergung habe ich viel mehr Zeit für die Rückreise als erwartet.
Nach 44km mit dem Rad geht es jetzt mit Fähre, Bus und Bahn richtig bequem heimwärts. Seit ich das Faltrad habe, musste ich hier das erste Mal eine Fahrradkarte für das Vehikel kaufen, denn bei praktisch jedem Verkehrsunternehmen gilt es im gefalteten Zustand als Gepäckstück. Die Verbindung mit der Fähre ist Gold wert: In 5 Minuten bringt mich die "Elbfähre Tanja" über den Strom. Und hier verkehrt immerhin ein richtiger Bus nach Lüneburg und (noch?) kein Anruf-Sammeltaxi.
Als der Bus sich in Bewegung setzt, beginnt es draußen zu regnen. Ich kann mich nicht beklagen: Mit dem Wetter hatte ich auf der ganzen Tour Glück. In Lüneburg ziehe ich den fast leeren Bummelzug dem schnelleren, aber krass überfüllten direkten Regionalexpress vor und komme entspannt nach Hause.
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