Sondentyp: RS41-SGP
SN:S0430231
Produktionsdatum: 2020-01-22
Frequenz: 405.1 MHz
Timerkill: keiner
Startstation: Lindenberg (WMOID:10393)
Flugdatum: 27.09.2020 00:00Z
Track wetterson.de
Landestelle: Kussebode, LAT, LON: 52.923161,11.003476, Google Maps
Status: geborgen am 27.09.2020 um 7:30 UT
Methode:GPS-Decodierung mit TTGO
Bis gestern abend hätte ich jeden Bericht über eine Bergung einer Sonde aus LINDENBERG im HVV-Bereich für reines Sondenanglerlatein gehalten. Lindenberg liegt immerhin östlich von Berlin, 30km von der polnischen Grenze. Schließlich leben wir in der Westwindzone. Punkt und Ende der Durchsage. Jetzt sitze ich hier und schreibe genau so einen Bericht. Ausgerechnet meine Radiosonde Nr. 300 kommt tatsächlich aus Lindenberg. Und sie wurde nicht bei einer Berlinreise eingsackt. Die Anfahrt erfolgte vielmehr mit HVV-Karte und Faltrad ohne Zuzahlung.
Im HVV-Bereich liegt die heutige Landestelle erst seit Dezember. Damals wurde der HVV-Bereich in Niedersachsen erweitert. Wobei die zwei äußeren neuen Tarifringe Mogelpackungen sind. Eine HVV-Fahrkarte dorthin kann man gar nicht kaufen. Da steht: "HVV-Tarif gilt nur für Zeitkarten". Jetzt möchte man meinen, dass ein Inhaber einer Monatskarte da fahren darf - eventuell nach Zuzahlung. Weit gefehlt: Wenn man sich darauf beruft, ist man Schwarzfahrer. Ich müsste mir ein Bahnticket kaufen. ABER: Am Wochenende gilt meine Abokarte im gesamten HVV-Bereich, auch in diesen Fake-Zonen. Denn HVV Gesamtbereich ist HVV Gesamtbereich, Fake hin oder her.
Also könnte ich am Wochenende gratis bis Cuxhaven, also an die Nordsee
fahren. Der andere Extrempunkt meines neugeschaffenenen Aktionsradius war
mir nicht geläufig. Befindet sich SCHNEGA überhaupt noch in den alten
Bundesländern? Recherche auf der Karte ergab: Ja, aber nur ganz knapp.
Tatsächlich ist der Dom von Magdeburg vom Bahnhof Schnega aus gesehen
ein paar Meter dichter als der Hamburger Michel. Danach hatte ich
Schnega auch schon vergessen.
Lindenberg ist natürlich ein legendärer Aufstiegsort. Hier begann in
Deutschland 1905 die ernsthafte Aerologie, und man war seither immer an
der Front der Forschung. Diese Tradition setzt sich fort. Man startet
nicht einfach nur normale Routine-Radiosonden, sondern stellt regelmäßig
Vergleiche verschiedener Sondentypen im Rahmen von Tandemflügen an.
Ozonsonden bereichern die Ausbeute der Sondenjäger im Raum Berlin und in
Polen. Die ganz heftigen Spezialsensoren (das Gespann wird in Polen
"Kuh" genannt) holt sich allerdings der Bergungstrupp des DWD selber
zurück - die betreiben Radiosondenjagd professionell.
Am Morgen des 27.9. gucke ich auf wetterson.de und bemerke sofort, dass Ungewöhnliches stattfindet. Die Sonde aus Greifswald fällt gerade vor Fehmarn in die Ostsee. Greifswalder Sonden in Schleswig-Holstein? Seit ich die Dinge verfolge, habe ich noch nie eine derartig heftige Ostwindwetterlage in der Hochatmosphäre gesehen. Aber woher kommt denn dieser Vogel da im Süden? Aus...LINDENBERG??? Ja, kein Irrtum möglich. Zwar keine Kuh, keine Ozonsonde und kein Tandem, sondern eine normale RS41. Aber eine aus Lindenberg. Sie hat einen Megafallschirm abbekommen und schwebt mit 1-2m/s Sinkgeschwindigkeit ein. So macht sie richtig Strecke. Wo ist die Landeregion denn? An der Bahnstrecke Uelzen-Magdeburg. Da lese ich den Namen SCHNEGA. Das hast Du doch schon mal gehört? Genau, das merkwürdige Kaff in der Fakezone am Rande der HVV-Erdscheibe. Aber heute ist doch Sonntag, da.... Soll ich? Wenn ein lokaler Sondenjäger das Ding einträgt, während ich im Zug sitze, suche ich mir eben eine Bergener Kaltsonde bei Lüneburg, man hat ja Auswahl.
Die Sonde ist immer noch unterwegs. Sie segelt auf das kleine Dorf
Kussebode zu. Dies liegt noch in Niedersachsen, einen Kilometer südlich
beginnt Sachsen-Anhalt. In 383m Höhe verliert sich die Spur auf der
Bremer Seite. Die Prediction ist wegen der großen Endhöhe und der extrem
langsamen Sinkgeschwindigkeit sehr ungenau - man ist dank der Freunde
in Uetersen, am Koog und in Oldesloe ja inzwischen derart verwöhnt mit
Endpositionen auf Baumwipfelhöhe. Sie liegt in ziemlichem Gestrüpp knapp
südlich des Dorfes. Die Windrichtung im Modell ist offenbar fragwürdig;
ich würde sie etwas weiter nördlich, im Dorf oder vielleicht am
nördlichen Dorfrand vermuten. Alles sehr unsicher. Wenn es im Dorf ist,
sollte man zeitig auftauchen, bevor der Landmann am Sonntag seinen Hof fegt.
Angesichts der langen Flugzeit ist auch die Frage, wie lange die Sonde
noch sendet.
Laut HVV-App muss ich hier um 6:33 in die S-Bahn steigen, dann am Hauptbahnhof in den Regionalzug springen und in Uelzen nach Magdeburg umsteigen. Dann wäre ich um 8:24 in Schnega. Von dort aus sind es 12 Kilometer mit dem Rad. Da ist noch Zeit für ein Frühstück und eine starke Tasse Kaffee.
Die Anreise erfolgt problemlos. Das ist also Schnega.
Der Himmel ist dunkel, aber es bleibt trocken. Das Gelände ist hügelig, ich muss alle Gänge des Faltrades benutzen. Schwärme von Wacholderdrosseln künden davon, dass es Herbst wird; genau wie die Radiosonde sind es Reisende aus dem Osten. Das Sondenjägerherz geht beim Anblick von Mais-Stoppelfeldern auf. Auf halber Strecke passiere ich Bergen - nein, es handelt sich um Bergen/Dumme. Ich nähere mich dem Ziel von Norden. Ein Blick auf den TTGO - ja, sie sendet noch und liegt nördlich des Dorfes, offenbar auf freier Fläche. Vielleicht kann ich, wenn ich mich beeile, die Sonde schnell einsacken und dann noch den nächsten Zug zurück erwischen? Aber nein, so einfach macht es einem eine Lindenberger Sonde natürlich nicht. Ich hänge erstmal das Faltrad ans Ortseingangsschild und benutze dann eine auf dem Weg erspähte sehr breite Treckerspur in ein ... undurchdringliches Maisfeld. Natürlich ist es als einziges weit und breit nicht abgeerntet. Und natürlich bringt mich die Treckerspur nicht weit genug, ich muss ich in den Urwald. Wäre sie ein paar Meter kürzer geflogen, läge sie auf dem Stoppelfeld.
Die Treckerspuren im Urwald sind eigentlich breit genug, aber mit mannshohem Unkraut zugewuchert. Dann stehe ich, bereits ziemlich durchnässt und komplett verdreckt, 5 Meter von der GPS-Position entfernt und sehe ...nichts. 5 Minuten Suche in 3 Metern Umkreis - da ist die Schnur, hoch über mir, und die Sonde ist dann rasch entdeckt.
Ich habe keine Lust, mich 50m durchs Maisfeld zum Fallschirm vorzukämpfen. Er liegt offenbar obenauf und lässt sich per Schnurzug leicht zu mir befördern. Den Bauern wird die restlose Beseitigung freuen. Wegen der extrem niedrigen Landegeschwindigkeit rechne ich mit einem intakten Ballon, also einem Floater. Aber der Ballon ist normal geplatzt; es ist fast nur der Hals vorhanden.
Als ich fast schon wieder aus dem Mais heraus bin, merke ich, dass der Rucksack
offen ist. Und es fehlt die kleine Tasche mit dem Werkzeug und meine
Fleecejacke - sie sind hoffentlich beim Aufsetzen des Rucksacks
herausgepurzelt und nicht irgendwo auf dem kaum zu rekonstruierenden Weg. Also wieder zurück zur
Sondenposition. Es ist ganz schön schwierig, irgend etwas im Maisfeld zu
finden. Auch wenn sich die Sachen am Ende sehr exakt auf der
Sondenposition anfinden, muss ich trotz GPS etwas suchen. Jetzt ist
meine Hose total durchnässt und ziemlich verdreckt. Beim Fahrrad wird
alles sortiert, notdürftig gereinigt und trockengerubbelt und der
seltene Fund ansatzweise dokumentiert:
Da die Züge in Schnega nur alle zwei Stunden fahren, kann ich mir Zeit lassen. Rehe
auf den Feldern und Schwärme von Stieglitzen. Die Krähen sitzen wie die
Geier auf den Eichen und mästen sich an den breitgefahrenen Eicheln auf der
Fahrbahn. Als ich am Bahnhof ankomme, fängt es an zu regnen, aber ich
kann mich gut neben dem (Fake)-HVV-Fahrkartenautomaten unterstellen.
Angesichts des immer ungemütlicheren Wetters verzichte ich aber auf die
angedachte Kaltsondenaktion bei Lüneburg. Die Kontrolleurin im Zug inspiziert meine HVV-Proficard genau von allen Seiten. Ihr ist bekannt, dass sowas hier gilt, ist aber neugierig - denn "sowas hab ich real noch nie gesehen"....
Übersicht über alle Sondenfunde hier
Karte aller Sondenfunde hier