Sonntag, 3. Oktober 2021

Sonden wildern im Revier des Göhrde-Mörders

1989 wurden im Staatsforst Göhrde zwei Doppelmorde begangen. Zwei Paare waren zur falschen Zeit am falschen Ort, wurden vom Täter überfallen, extrem brutal umgebracht und notdürftig am Tatort versteckt. Der Täter war danach seelenruhig wochenlang mit den PKWs der Opfer herumgefahren. Auch ereignete sich der zweite Mord genau in dem Augenblick, als die Polizei gerade den wenige Meter entfernten ersten Tatort untersuchte. Diese Brutalität und Dreistigkeit sorgte für viel Medienaufmerksamkeit und führte dazu, dass der einst beliebte Ausflugswald von den Besuchern jahrelang gemieden wurde. Nicht nur XY machte die Morde zum Thema, das Vorkommnis wurde Vorlage für TV-Krimis. Da die Polizei jahrzehntelang im Dunkeln tappte und die Ermittlungen wohl auch auf Sparflamme führte, wurde das Ereignis in den Medien zu runden Jahrestagen immer wieder aufgegriffen und blieb daher im öffentlichen Bewusstsein in ganz Norddeutschland.  Erst 2017 brachte eine Rentner-Truppe aus pensionierten Hamburger Strafverfolgungs-Spezialisten Bewegung in die Sache. Die ermittelten im Fall der Schwester des ehemaligen Hamburger Kripochefs; sie war ebenfalls im Sommer 1989 spurlos verschwunden. Ihre Überreste wurden am Ende eingemauert im Fundament der Garage eines Verdächtigen gefunden. In der Folge wurden über DNA-Beweise auch die Göhrde-Morde diesem Täter zweifelsfrei zugeordnet.

Das ganze Drama hätte ich komplett verdrängt, wenn nicht am 29.9. eine Bergener Radiosonde ganz unweit der damaligen Tatorte gelandet wäre und ich beim Betrachten der Karte die damaligen Ortsnamen sah.


Sondentyp: RS41-SGP
SN:
 
 
S3140471
Frequenz:
405.7 MHz
Timerkill: 5 Stunden
Startstation:
Bergen (WMOID:10238)
Flugdatum: 29.09.2021 12:00Z
Track wettersonde.net
Maximale Höhe: 34432m
Durchschnittliche Aufstiegsgeschwindigkeit: 5.19 m/s 
Landegeschwindigkeit: 11.1 m/s
Landestelle: Göhrde-Wald
, LAT, LON:
53.148549,10.7895648 Google Maps
Status: geborgen 02.10.2021, 
10:10 UT
Methode: Extrapolation aus Radiosondy-Daten

Die 18-Uhr Sonde des selben Tages landete ebenfalls in der Göhrde.  Das Wendland ist immer gut für fahrradbasierte Kaltsondenjagden, und ich war bei der Gelegenheit auch schon mal in der Göhrde gewesen, aber noch nie in dieser Ecke des Waldes. Schnell wurde eine Route zusammengestellt, die auch noch die Mitternachtssonde vom 29/30.9. und eine weitere ältere Kaltsonde einschloss. Auch könnte man bei der Gelegenheit den Baumlander S2330369 im Wald bei Kettelsdorf kontrollieren, der liegt auf dem Weg.

Der Hinweg zu einer Wendland-Radtour funktioniert am besten mit der Wendlandbahn. Diese eingleisige Bahnlinie am Rande der Erdscheibe fährt allerdings nur alle 3 Stunden. Ich verlasse sie am Bahnhof Göhrde. Von da aus geht es auf Straßen, Feld- und Waldwegen in den riesigen Wald der Göhrde. Da der Göhrde-Mörder nicht mehr lebt, ist das Betreten seines ehemaligen Reviers ohne Gruselgefühle möglich. Ein Freund, der in der Gegend wohnt, hat mir aber erzählt, dass es trotzdem sehr einsam in diesem Wald geblieben ist. Die Leute haben jetzt Angst vor dem Wolf. Das wahre Problem sind aber weder Wölfe noch Mörder, sondern das Passieren solcher Wege mit 16-Zoll-Rädern:


 


Selbst Schieben wird da schwierig. Ich hatte eine Tawhiri-Prediction gerechnet, allerdings erwies die sich als unplausibel. Also basiere ich die heutige Sondenjagd auf Extrapolationen. Danach soll die Sonde unmittelbar an einer Wegegabelung liegen. Mit Glück nicht in den Bäumen. Als ich mich bis zu der Stelle vorangekämpft habe, sehe ich direkt am Weg plötzlich die Schnur im Bodenbewuchs verschwinden. Die Schnur liegt fast auf einem Haufen. Am einen Ende der völlig im großen Ballonrest verborgene Schirm...



... und am anderen die Sonde, wie sich das gehört









Das war easy. Weiter geht es, mehr Schieben und Fahrrad tragen als fahren...


Schon stehe ich am Forsthaus Röthen, das damals in den Berichten eine Rolle spielte. Hier standen 1989 verängstigte Beerensammler vor der Tür des Försters, die im Wald gruselige Funde gemacht hatten.



 


Von hier geht erstmal die Asphaltstraße nach Süden. Allerdings nur für einen Kilometer. Dann biege ich links ab in den Wald. Der Forstweg ist diesmal vernünftig befahrbar. Er  bringt mich bis ca. 130m an die Vorhersageposition heran.


Sondentyp: RS41-SGP
SN:
 
 
S3140967
Frequenz:
405.7 MHz
Timerkill: 5 Stunden
Startstation:
Bergen (WMOID:10238)
Flugdatum: 29.09.2021 18:00Z
Track wettersonde.net
Maximale Höhe: 35240m
Durchschnittliche Aufstiegsgeschwindigkeit: 4.78 m/s 
Landegeschwindigkeit: 13.2 m/s
Landestelle: Göhrde-Wald
, LAT, LON:
53.123933,10.81635 Google Maps
Status: geborgen 02.10.2021, 
11:09 UT
Methode: Extrapolation aus Radiosondy-Daten





Durch ein Gewirr von umgestürzten Baumstümpfen geht es zur Landestelle in einem Buchenwald. Ich sehe sofort 20 Meter linkerhand die Sonde am Boden liegen, vergesse aber ein Foto zu machen. In Flugrichtungen liegen ein paar Latexstreifen auf dem Waldboden. Ich brauche eine ganze Weile, den Ballonrest sehr hoch im Baum zu erfassen.








Zurück geht es zur Straße und von dort quer durch die Göhrde über Himbergen nach Kettelsdorf. Von dort muss ich wieder in den Wald. Dort hatte ich im Mai bei einer ähnlichen Radtour einen Baumlander aus Norderney in 20m Höhe lokalisiert. Ist der vielleicht schon heruntergefallen? Ich finde den Baum und meine damaligen Markierungen. Drunter liegt keine Sonde, oben hängt keine Sonde. Was? Vielleicht ist sie in den Nachbarbaum gependelt? Tatsächlich, da ist sie. Genauso hoch wie damals. Die neue Position wird abgespeichert. Viel kann man da erst einmal nicht machen. 

Auf nach Groß Thondorf. Hier muss noch rasch die dritte Sonde des Bergen-Hattricks, S3140169,  eingesammelt werden. Wäre doch gelacht...Immerhin kein Wald.  Und es ist auch kein Mais, sondern ein sehr frisch geeggter Acker. Da liegt nichts. Es ist sehr gut möglich, dass das Feld erst nach der Sondenlandung bearbeitet wurde. Vielleicht ist die Sonde aber auch weiter geflogen, in das Maisfeld linkerhand. Ein praktischer Fahrweg führt parallel zur Straße mitten durch den Mais. Diesen müsste die Sondenschnur im Zweifel kreuzen. Nichts. Eine am 10m Mast hochgelassene Actioncam sieht auch nichts. Im Wald ist auch nichts. Dieses Kapitel kann man wohl schließen, Sonde weg. 

In den Dörfern im Wendland ist mancherorts die Zeit stehen geblieben. Hier eine Erinnerung an das 3-Kaiser-Jahr 1888:



Wie komme ich nach Hause? Da die Wendlandbahn nur alle 3 Stunden fährt, geht es wie immer besser zum Bahnhof Bevensen. Da ist auf dem Weg noch direkt an der Straße eine Markierung auf meiner Locus-Karte zu sehen: S3130181, die Bergener Abendsonde vom 6.8.2021.. Da braucht man nichts zu probieren: Das Feld ist neu bestellt. Zuhause sehe ich dann, dass der von einem Sondenjäger alarmierte Landwirt die Sonde geborgen hat.

Der Weg nach Bevensen ist super. Es geht meist bergab. Ein Vorteil des herbstlichen Wendlandes ist, dass die Straßenbäume oft Apfelbäume sind. Da ich auf solchen Touren wenig Proviant mitnehme, ist die Vitaminzufuhr sehr willkommen.  Nach insgesamt 45km erreiche ich den Zug und muss am Bahnhof kaum warten.


Übersicht über alle Sondenfunde hier
Karte aller Sondenfunde hier